Jetzt fehlen nur noch fünf Brücken

Leider gibt es im kleinen Wasserpark in Floridsdorf nur zwei. Und die zwei Brücken sind sehr klein, dafür aber steil. Angeblich im japanischen Stil. Soll mir recht sein. Die Brücken interessieren mich eh selten. Ich bin meist auf der anderen Seite, also neben Autobahn und unterhalb der Floridsdorfer Brücke. Dort ist eine kleine Insel, die eine Graureiherkolonie beherbergt. Daneben eine kleine Wasserstelle, die unterschiedlichsten Wasservögeln eine geschützte Heimat gibt. Im Westen des Parks sickert Donauwasser als "warme Quelle" durch den Hubertusdamm und verhindert weitgehend das Zufrieren des Wassers.

Wahrscheinlich sind nicht alle geblieben, immerhin sind sie eigentlich Zugvögel

"Wo sind die Reiher heuer? Momentan ist alles so still und leer." Ein Mann, einen Einkaufstrolley ziehend, versucht mir frühmorgens ein Gespräch aufzudrängen. Aber eigentlich will ich nicht nachdenken. Weder wo die Graureiher sind, noch ob die, über mich kreisenden Möwen Hunger haben, noch über den Rest der Welt. Ich will eigentlich meinen Kopf frei bekommen und die Stille genießen.

Als Großstädterin, als gebürtige Wienerin, als bekennende Wienliebhaberin, gibt es momentan ohnehin viel zu viel zum Denken. Die Angst vor Corona. Die Angst seit diesem Montag vor einem weiteren Terroranschlag. Existenzangst. Und vieles mehr.

"Manchmal scheint die Uhr des Lebens still zu stehn

Manchmal scheint man nur im Kreis zu gehen

Manchmal ist man wie von Fernweh krank

Manchmal sitzt man still auf einer Bank"

Das. von Peter Maffay interpretierte, eigentliche Volkslied geht mir nicht aus dem Kopf. Aber ganz ehrlich, bei der ersten Raureifnacht in Wien setzt man sich schon gar nicht still auf eine Bank. Huschi kalt ist es heute Morgen. Der Mann ist mit seinem Einkaufstrolley weitergezogen.

Wirklich schön hier. Zwei Damen joggen laut plaudernd an mir vorbei. Vom Wasser aus schnattern mich Enten an. Nein, meine Lieben, ich habe leider nichts für euch mitgenommen. Weil Füttern ist ja eh ohnehin verboten.

Wieso ist er jetzt so nervös?

Der Mann mit dem Einkaufstrolley sitzt auf einer Bank und schaut nervös umher. Dann greift er in seinen Trolley und zieht etwas hervor. Seine Hektik steckt mich an. Ich erwische mich selbst und stelle fest, dass mein Nervenkostüm derzeit hochgradig angeschlagen ist. Enten schwimmen erwartungsvoll auf ihn zu. Wird er oder wird er nicht? Sein Kopf rotiert wie bei einem Tennisspiel.

"Manchmal ist mir kalt und manchmal heiß

Manchmal weiß ich nicht mehr was ich weiß

Manchmal bin ich schon am Morgen müd

Manchmal such ich Trost in einem Lied"

Der Typ auf der Bank schält seine Banane. Und ich ziehe weiter. Fange die bunte Herbststimmung mit der Kamera ein. Egal zu welcher Jahreszeit, dieses Kleinod zwischen Hauptverkehrsstraßen und hohen Häusern ist immer eine Erholung. Wir haben es schon schön in Wien. Wir müssen es nur sehen. Wir müssen es nur erkennen und genießen. Und ich muss meinen Kopf wieder frei bekommen.

Tiere beobachten beruhigt, bis es im Gebüsch raschelt

Irgendwo klopft ein Specht. Ein Eichhörnchen huscht mit einer Nuss im Maul an mir vorbei. Eine Krähe verfolgt einen Graureiher. Im Gebüsch raschelt es, ich springe zurück. Huch, meine Nerven liegen doch offener als gedacht.

Übrigens, die Fotos sind Tierfotos im Jahreskreis und nicht von heute.

Vom Aktivpark knirschen mir eigenartige Geräusche entgegen. Trotz des leicht kühlen Windes nutzen unerschrockene Sportler die vielen Geräte zur Ertüchtigung der eigenen Fitness. Ich ziehe weiter.

Und jetzt auf zum Frühstück

Das gute Fotolicht ist vorbei. Mir knurrt der Magen. Wenn man frühmorgens, noch vor dem Frühstück, aus dem Fenster schaut und beschließt sofort eine Fotorunde anzutreten, rächt sich das Verhalten irgendwann. Es ist Lockdown-Zeit in Österreich. Kein gemütliches Frühstück in einer Bäckerei in der Nähe. Kein heißer Tee im feinen Porzellan. Nagut, dann fahre ich halt nach Hause.

Der Refrain hat sich in die Gedanken gebrannt

"Über sieben Brücken musst du gehen

Sieben dunkle Jahre überstehn

Sieben Mal wirst du die Asche sein

Aber manchmal auch der helle Schein"

Und dennoch fühle ich mich freier

Mein Kopf ist freier. Meine Gedanken sortierter. Meine Laune gestiegen. Schön, unsere Kraftplätze inmitten der Millionenmetropole. Ich wandere zur Straßenbahn. Auf nach Hause. Zum Frühstück. Zum heißen Tee. Den habe ich mir jetzt verdient. Und immerhin, zwei Brücken habe ich heute schon geschafft.

Wien, 06.11.2020

Unsere allgemeinen Wandertipps: Großstadtwanderer

Fotos von Fotografin Renate

Transparenz