Corona nimmt uns nicht die gute Laune
Ein Lokalaugenschein am Wiener Naschmarkt im März 2020, drei Tage vor dem Lockdown in Österreich
Gespenstisch leer
liegt der sonst bis Anschlag überfüllte Naschmarkt vor mir. Hin und da hört man
einen Rollladen hochfahren. Standler rücken ihre Ware ins rechte Licht und
warten auf eine handvoll Besucher, die durch den Markt schlendern.
In Zeiten des Corona-Virus ist alles anders. Wobei ich noch betonen sollte, dass die gleich erzählte Geschichte noch vor der behördlichen Sanktion spielt.
Als Busunternehmerin habe ich in Corona-Zeiten nicht viel zu tun. Noch bin ich gott-sei-dank von der großen Stornowelle nicht erfasst, jedoch verirren sich auch keine neuen Reiseanfragen zu mir. Was also mit der ganzen, ungewollten, Freizeit tun?
Dank Corona tun, zu dem man sonst nicht kommt
Nachdem ich noch als Fotografin arbeite, schnappe ich meine Kamera und mache das, zu dem ich normalerweise nicht komme. Ich fahre an den weltberühmten Wiener Naschmarkt fotografieren. Den Naschmarkt kenne ich schon als Kind. Damals, als wir in den Sommerferien in die Palatschinkenkuchl gefahren sind, da es mit dem Ferienspielpass ein Glas frische Milch gratis gab. Und wenn Mutti zuvor ein wenig Geld gespart hatte, gab es eine große Schinken-Käse-Palatschinke für uns beide. Das war ein Erlebnis. Bis vergangenes Jahr besuchte ich mehrmals im Jahr meine Palatschinkenkuchl. Es war immer der gleiche Vorgang, zuerst einmal die Speisekarte studieren, um dann eben nur ein großes Stück Schinken-Käse zu bestellen. In den letzten Monaten brachte mir der nette Russe, der das Lokal bis zum letzten Tag führte, schon unaufgefordert meine große Palatschinke. So bekannt war ich bereits.
Nun ist die Palatschinkenkuchl schon einige Zeit geschlossen. Warum auch immer. Das Lokal leer. Meine Kindheitsträume im Palatschinkenteig erstickt. Nur die Erinnerung bleibt an die unbeschwerten Zeiten auf den abwetzten Barhockern.
Die Anziehung vom Naschmarkt ist ungebrochen
Dennoch, der Naschmarkt übt nach wie vor eine gewisse Anziehung aus. Meist am Samstags ziehe ich meine Runden am angrenzenden und berühmten Flohmarkt. Einfach um das Flair zu genießen, Bruchteile von Verkaufsgesprächen in unterschiedlichen Sprachen aufzuschnappen. Nur ganz selten finde ich auch ein paar Schnäppchen unter der Fülle an angepriesener Ware. Daran schließt der Bauernmarkt an, wo ich dann den Verlockungen von frischen Obst und Gemüse, sowie Wurst- und Fleischwaren und anderen Bauernprodukten in reichlicher Menge erliege. Frischer und regionaler geht es kaum. Und bei jedem Besuch werde ich über mich selbst schimpfen, wieder einmal zu viel eingekauft zu haben. Denn schleppen darf ich alleine.
Gewürze für die Zauberküche
Mit vollgepackten Einkaufstaschen muss ich noch "meinen" Gewürzstand besuchen. Einfach um meine, seit Jahren, gleichen Einkäufe zu tätigen und wieder mal einen raschen Blick auf das restliche Angebot zu werfen. Einerseits ändert sich die Ware, andererseits erweitert sich mein Wissenstand zum Thema Zauberküche. Stimmt, neue Leser wissen es noch nicht, aber Frau Renate, also ich, machte jahrelang einen großen Bogen um jegliche Küchen. Mittlerweile kommt keine Feuerwehr mehr, wenn ich in meiner Zauberküche den Herd einschalte. Und Leben tun wir auch noch alle.
Corona fegt den Markt leer, lässt aber Zeit für Geschichte zu
Kommen wir zu meinem heutigen Ausflug zurück. So leer ist der Markt, der unter Bürgermeister Dr. Richard Weiskirchner, im November 1916 an dieser Stelle eröffnet wurde, sonst nur nach Sperrstunde der Gastronomielokale bis zur erneuten Öffnung der Rollbalken. Erstmals fällt mir die kleine Kapelle auf und die beiden Messingschilder, die die Geschichte des Marktes erzählen. Noch nie war mir bewusst, dass dieser Markt, für den sogar 718 m Wienfluß und Stadtbahn überdeckt wurden, nur ein Ersatzmarkt für den alten Naschmarkt war. Der alte Naschmarkt befand sich seit dem 18. Jahrhundert an der Stelle des einstigen Heiligen Geist-Spitales und erstreckte sich vom Freihause, der Wiedner Hauptstraße und dem Karlsplatz bis zur Friedrichstraße und der rechten Wienzeile. Wow, das klingt riesig. Ach wie gerne wäre ich, als absolute Marktgeherin, damals durch diese Stände lustwandelt. Übrigens, wer kennt das tolle Graffiti an einem der Marktstände?
Von der alten Zeit träumend wandle ich weiter Richtung Kettenbrückengasse als ich ein freundliches "Servus" höre. Oh, "mein" Marktstandler steht schräg vis-a-vis im Teestand und winkt mich zu sich. Kaum zu glauben, dass er mich kennt, wo ich doch nur hin und wieder bei ihm zu Gast bin. Unser Gespräch beschränkt sich im Stimmengewirr der vielen Touristen meist nur auf "10 dag das, 20 dag das und schönen Tag noch!" Zur Normalzeit, vor allem samstags, kommen wir nicht wirklich zu einem Gespräch, geschweige denn zu einem Gedankenaustausch oder ein paar Tipps zur Verwendung der in- und ausländischen Gewürze.
Tee gegen Corona-Hysterie
Freundlich wird mir, aus rund ein Meter Entfernung, ein Glas türkischer Tee entgegen gehalten. In Corona-Zeiten muss der Abstand sein. Sicher ist sicher. Dennoch entsteht ein nettes Gespräch. Ich mitten unter den Standbetreibern. Natürlich dominiert Corona unsere Gesprächsinhalte, aber schon bald reden wir über dies und das. Über verschiedene Regionen, schildern uns Erlebnisse aus unseren Jobs. Nett, die Menschen hinter den Verkaufspulten. Freundlich, zuvorkommend, gebildet. Die Zeit vergeht wie im Fluge, ohne dass uns auch nur ein potentieller Käufer unterbricht.
Ich decke mich noch mit bunten Vitaminen ein, nehme mir österreichische Kletzen (Dörrbirnen) für Kletzennudeln mit, dazu eine Handvoll türkischer, wirklich süßer Feigen. Ein Sackerl der letzten Aranzini, denn aus Italien kommt derzeit kein Nachschub, dazu noch diverse Pfeffersorten, Kümmel, kandierten Ingwer, Nüsse und vieles mehr. Am freundlichen Teestand noch ein paar gesunde Tees, nur für den Fall der Fälle und Corona verbietet mir das Mineralwasser trinken.
"Kommst du morgen wieder? Oder übermorgen? Tee gibt es immer für dich!"
Ich weiß noch nicht. Vielleicht. Wenn Corona weiter das Land in Atem hält und mich das Plauscherl mit meinen neuen Freunden vor einem Lagerkoller bewahrt. Ich verspreche nichts, murmle nur leise: "wir werden sehen".
Die Regierung schließt unser Leben
Nur ein paar Stunden später beschließt die Regierung strickte Maßnahmen, die unser aller Leben auf den Kopf stellt. Veranstaltungen werden abgesagt, Museen geschlossen, Gastronomie ist eingeschränkt. Wir sollen auf persönliche Kontakte weitgehend verzichten. Schulsperrungen werden angedacht. Der Stephansdom für Touristen geschlossen. Vieles wird noch folgen, dessen wir uns in dieser Minute noch gar nicht bewusst sind.
Corona nimmt uns die gute Laune nicht
Und ich? Ich werde in den nächsten Tagen trotzdem auf den Naschmarkt zu meinen neuen Freunden schauen. Und wir werden Tee trinken und abwarten. Und ich werde den freundlichen und zuversichtlichen Standler fragen, ob seine Worte von heute noch gelten: "Corona nimmt uns die gute Laune nicht!"
Der Naschmarkt seit über 100 Jahren
Wenn Corona vorbei ist, wird es wieder bunt am Naschmarkt. Dann werden auch alle Stände wieder feinste Ware aus nah und fern anbieten. Dann laden gemütliche Gastronomielokale zum Verweilen ein. Dann werden wir wieder Führungen am und um den Naschmarkt anbieten. Geschichte erlebbar machen. Kulinarisch sich durch die Gewürzwelt wagen. Fotografisch die bunte Produktpalette ins rechte Licht rücken. Und Tee trinken um die Probleme dieser Welt zu vergessen.