Erinnerungen zwischen Industrie, Wasser und Lärm

Friedhof der Namenlosen im Alberner Hafen

Der 10. November steht in den USA ganz im Zeichen der Erinnerung. Es ist Vergissmeinnicht-Tag. Diese winzig kleinen blauen Blumen, die auf wilden Feldern zu finden sind, haben viel für die Symbolik übrig. Meistens werden sie mit der Erinnerung an geliebte Menschen in schweren Zeiten in Verbindung gebracht.

Der einzige Friedhof seiner Art auf dieser Welt

Ich beschließe heute einer ganz besonderen Erinnerungsstätte in Wien einen Besuch abzustatten. Dem Friedhof der Namenlosen. Dem einzigen Friedhof auf der Welt, der das Andenken, an einfach unbekannte Menschen über mehr als 300 Jahre am Leben erhält. Und inzwischen fast 100 Jahre von Familie Fuchs liebevoll und ehrenamtlich betreut wird.

Da es bereits eine ausführliche Webseite über den Friedhof der Namenlosen gibt, verlinke ich diese hier einmal frech. Ich möchte auf meiner Seite keine einfache Abschreibübung tätigen, sondern meine persönlichen Eindrücke zur Ehre dieser unbekannten Donauleichen vermitteln und anregen, selbst vorbeizuschauen.

Es ist ein grauer, nebliger, feuchter Tag in Wien. Seit nunmehr als fünfundzwanzig Minuten laufe ich wie ein Tier im Käfig auf und ab. Mir läuft permanent ein kalter Schauer über den Rücken. Oder ist es die Spannung auf den Ausflug. Was wird mich erwarten? Was werde ich für Gefühle erleben, an einem Ort, wo knapp 500 fremde Menschen begraben sind. Menschen, die damals unter kaum vorstellbaren Mühen und Plagen aus dem Donaustrudel im heutigen Albener Hafen geborgen und hier zu Grabe getragen wurden. Nur wenige, wohl auch bis zur Unkenntlichkeit entstellte, Leichen konnten mit Hilfe der damaligen Forensik identifiziert werden. Nur eine Handvoll Namen hängen an den schlichten Eisenkreuzen.

Die Wiener Linien wären hilfreicher gewesen

Lieber Dr. Google, wenn deine Mapsangabe bei der Recherche nach einer öffentlichen Anreise auch gewusst hätte, dass ab Simmering/Enkplatz nur sehr vereinzelt Busse bis zur Endstation Alberner Hafen fahren, müsste ich hier jetzt nicht frieren. Weißt du es nicht? Oder ist es dir schlechtweg wurscht? Wer auch immer sich auf den Weg zum Friedhof machen möchte, schaut bitte direkt bei den Wr. Linien nach. Es ist Bus Nr. 76 A. Aber der, der bis zum Alberner Hafen fährt. Denn von dieser Endstation führt ein sehr gut beschilderter Fußweg in rund 5 Gehminuten gesichert bis zum Friedhof der Namenlosen. Und gesichert ist hier sehr wichtig, denn die letzte Ruhestätte liegt heute inmitten des immer größer werdenden Hafens. Bis zur Friedhofsmauer reichen die Industrieanlagen. LKW brausen über den gatschigen Boden. Ein Betonmischer wird gerade gesäubert und ich klettere über die graue Schlacke. Ein Zug, der wohl auf Beladung wartet, versperrt die Aussicht zur Donau.

Mir wird bewusst, welche Energie und Liebe Familie Fuchs in diesen geschichtsträchtigen Ort steckt. Unter welchen Aufwand sie es schafft, dass hier nicht schon alles plattgewalzt wurde. Welches Durchsetzungsvermögen hier angewendet wird, dass ein Ort, wo unbekannte Personen begraben sind, nicht von der Geschäftswelt niedergewälzt wird. Schon aus diesem Grund ist es, meines Erachtens, wichtig, diesen Ort zu besuchen und den Toten die letzte Ehre zu erweisen.

Ich bin fasziniert, es ist kein alter, verfallener, vergessener Friedhof mit verwilderten Grabsteinen. Es ist ein sehr gepflegter Erinnerungsort mit, jetzt nach Allerheiligen, hübschen Blumenschmuck. Laut Internet von einem Friedhofsgärtner dankenswerterweise gespendet. Mit fast einheitlichen Eisenkreuzen, die ständig restauriert und ausgebessert werden. 

Schade, dass es heuer, aufgrund von Corona, die alte Tradition der Floßübergabe an die Donau, im Gedanken an die Menschen, die nicht aus ihren Fluten geborgen wurden, nicht gab. Normal findet diese Erinnerung immer am ersten Sonntag nach Allerheiligen statt. Mehr Info auf der Webseite vom Friedhof.

Übrigens, recht neu sind das Kreuz und die Gedenkstätte für alle tödlich verunglückten Motorradfahrer.

Der Freitod in der Donau

Wie schon erwähnt, hier sind rund 500 Menschen bestattet. Menschen, die einst in den Fluten der Donau ihr Leben ließen und im Strudel im Alberner Hafen angeschwemmt wurden. Nur eine Handvoll Namen sind zu finden. Menschen, die identifiziert werden konnten und wo die Familien sie hier gleich bestatten ließen. Sei es aus Geldmangel für eine Überführung oder als - auf wienerisch gesagt - Wurschtigkeit. Immerhin wählten doch fast alle hier Begrabenen den Freitod in der Donau.

Aber es finden sich auch andere Schicksale, wie von dem Deutschen, der beim Hafenbau hier sein Leben ließ. Oder der einst, in einer Holzkiste, hier angeschwemmten Babyleiche, die auf Sepperl getauft wurde.

Heute bleiben mir die Geschichten verborgen

Ein beklemmendes Gefühl beschleicht mich, während mich die, vom Wetter geplagten, Stofftiere flehend anschauen. Wenn sie nur die Geschichten ihrer Schützlinge erzählen könnten. Die Hintergründe, wieso der Freitod der einzige Ausweg war. Welche Schicksale stecken hinter diesen Taferln mit 'Namenlos' und 'Unbekannt'. Wer waren diese Menschen? Einfache Leute ohne Schulbildung? Oder gebildete Menschen, die keinen Ausweg im Leben mehr sahen? Oder waren es doch nur Opfer von Fremdverschulden, wie ein Schild hier beweist?

Der Baulärm der Großbaustelle Alberner Hafen ist unerträglich. Motoren laufen, Fließbänder drehen ihre Runden, LKW heulen auf. Es ist unmöglich hier Stille zu finden und den Geschichten, die durch den Nebel und die Blätter säuseln, zuzuhören. Geschichten von damals. Geschichten, die das Leben schrieb und gleichzeitig beendeten. Der Lärm macht mich fertig, ich kehre dem Friedhof den Rücken. Ich komme wieder. Aber dann einem arbeitsfreien Tag. Dann, wenn die Geschichten der Wind erzählt. Oder Herr Fuchs bei einer persönlichen Führung, die nach Vereinbarung angeboten wird.

Aktueller als gedacht

Wir schreiben das Jahr 2020. Ein ebenso geschichtsträchtiges Jahr. Geprägt von einer schweren Pandemie, die schon tausenden Menschen auf der ganzen Welt das Leben gekostet hat. Diese Menschen werden auf ihren Grabsteinen ihren Namen, ihre Geburts- und Sterbedaten und vielleicht noch einen netten Spruch finden. Diese Menschen sterben nicht namenlos.

Aber wo sind jene, die nicht an der Krankheit selbst, sondern an den psychischen Folgen sterben? Vereinzelt tauchen in den Medien bereits Geschichten rund um Selbstmörder auf. Über Menschen, die das Schicksal in die Knie zwang. Existenzängste. Familienprobleme. Trennungsschmerz. Die Liste ist lang. Es wird sie wieder geben, die Menschen, die Zuflucht in einer besseren Welt suchen und sich selbst das Leben nehmen. Nur sie werden einen Namen haben. Hoffe ich zumindest.

Wien, 11.11.2020

Und unser Partner CÄSAR-Bus organisiert gerne geführte Bustouren zum Friedhof und seine Umgebung.

Unsere allgemeinen Wandertipps: Großstadtwanderer

Fotos von Fotografin Renate, www.fotografinrenate.at 

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