Die Normalität versinkt im Nebel
Der graue Nebeltag in Wien passt zu meiner Stimmung. Obwohl ich nicht schlecht geschlafen habe, ist meine Laune unter 0 gesunken. Wahrscheinlich macht sich heute die negative Stimmung in dieser herausfordernden Zeit besonders bemerkbar.
Ich beschließe, nachdem ich heute genauso wenig, wie die letzten 8 Monate, für mein Busunternehmen zu arbeiten habe, nach Schönbrunn zu fahren. Wenn mein Hauptberuf schon seit März still steht, erfreue ich mich an Beruf Nummer 2. Nun gut, aber eine Reisefotografin hat in dieser Zeit auch nichts zu tun...
Dass der Ausflug, in eine Hochburg des österreichischen Tourismus, heute meine Laune steigern wird, werde ich erst später erkennen.
Aber jetzt mal los. Kommt mit mir nach Schönbrunn!
Normal wäre hier alles anders. Aber Normal ist 2020 nicht möglich
Es ist November. Ein Monat vor dem heiligen Abend. Es ist gegen Mittags. Normalerweise würden hier schon tausende Touristen wie aufgescheuchte Hendl herumlaufen. Zwischen deutschsprachigen Gästen würden geschäftige, asiatische Gruppenleiter versuchen ihre Schützlinge durch die Masse zu dirigieren, ohne auch nur eine Person zu verlieren.
Der allseits bekannte Mozartdarsteller, ganz in Gold gefärbt, würde wie immer seine Liedchen pfeifen und auf ein paar Münzen hoffen.
Ein neuer Busparkplatz. Heuer ohne Gäste.
Bis voriges Jahr war hier entlang der Westeinfahrt noch der Busparkplatz. Normalerweise wären hier viele Busse, teilweise sogar in zwei Reihen anzutreffen. Die einen, die Fahrgäste aus-, die anderen, die Fahrgäste einsteigen lassen. Voriges Jahr im Herbst wurde vis-a-vis ein riesengroßer Busparkplatz mit dem "Arrival Center Schönbrunn" errichtet. Gesichertes Aus- und Einsteigen der Fahrgäste, inklusive Toiletteanlage und Kartenservice sowie Souvenirladen wäre gewährleistet. Ja, wäre, wenn da nicht 2020 wäre...
Einsam läuft die Taube den grauen Asphalt auf der Suche nach den letzten Bröseln auf und ab. Normalerweise würde sie hier ihren Jahresvorrat für 2021 zusammentragen.
Wenn Sicherheitsmann und Christbaum einsam sind
Der Sicherheitsmann, den ich normalerweise nicht mal wahrnehme, grüßt heute freundlich, als ich durch das große Eisentor den Vorplatz betrete. Einsam steht der beleuchtete Christbaum inmitten des mystischen Szenarios. Keine, in Herzform angeordneten, Holzbuden versperren die Sicht. Keine Bühne davor gibt Gruppen die Möglichkeit eines Auftrittes und den Gästen ein vorweihnachtliches Feeling.
Kein Duft von Apfelpunsch, keine gefrorene Butter und keine knusprigen Chips
Ein kühler Wind streicht um meine Nase. Der ist jedes Jahr hier. Sonst ist nichts hier. Wäre es nicht 2020 würde ich schnurstracks durch die mir entgegenkommende Menschenmenge laufen, eine rasche Runde durch den Adventmarkt machen. Nur, um festzustellen, dass sich bei den Anbietern nur wenig geändert hat. Dann würde ich gezielt den Stand mit dem, für mich, besten Apfelpunsch und den flaumigen Germknödeln ansteuern. Sodann, das Häferl und den Pappteller jonglierend, einen Platz suchen. Und wie immer über die heftige Diskussion über den Häferleinsatz am Nebentisch den Kopf schütteln. Kinder, Einsatz ist Einsatz und den bekomme ich wieder zurück! Wie man sich derart darüber aufregen kann, frage ich mich Jahr für Jahr.
Mit Gier würde ich den warmen, flaumigen Germknödel verschlingen und zum Schluß mit dem Plastiklöffel die bereits kaltgewordene Butter vom Pappteller kratzen. Danach noch rasch die Hände am Häferl erwärmen und den mittlerweile lauwarmen Punsch genießen. Mir den Fotz (= den Mund) abwischen und mir denken, teuer ist das schon, aber so lecker...
Es kracht beim Beißen in die frischen Erdäpfelchips
Danach würde ich weiterwandern und mich in der Schlange vor dem Stand mit den frischen Erdäpfelchips anstellen. Wie jedes Jahr würde ich mir die Beine in den Bauch stehen, die Möwen beim Picken der Speisereste auf den Tischen beobachten, während heiße und fettige Dampfschwaden über die wartende Schlange hinwegziehen. Inzwischen würde ich meine Augen über die anderen Stände kreisen lassen und wie jedes Jahr überlegen, wem ich einen gestickten Lavendelpolster schenken könnte. Die sind immer so süß und ein wirklich brauchbares Geschenk.
Dann würde ich die kleine Tüte Erdäpfelchips endlich in Händen halten und mampfend weiter in den Schlosspark schreiten. Wie jedes Jahr würde ich mich über die tausenden Fotografen und Selfiemenschen vor dem Blick in den Durchgang ärgern, während mich Menschen mit Blick auf deren Handy anrempeln und ich wieder mal ein paar Chips für die Möwen ausstreue. Und ich es wieder mal bereue, nicht die große Tüte gekauft zu haben.
Die einsame Fotografin
Heute stehe ich als Fotografin hier. Ganz alleine. Ohne Chips. Ohne warten. Ich habe Zeit. Minutenlang, und wenn ich will wahrscheinlich sogar stundenlang. Mein erstes Foto des begehrten Fotoplatzes. Tja, bezaubernd ist der Blick schon, sogar an einem Nebeltag.
Normal würde ich mich weiter durch Trauben von Menschen drängen, unzählige Wortfetzen in unterschiedlichen Sprachen auffangen.
Im gesamten Schlosspark würden Touristen, und vereinzelt auch Einheimische, anzutreffen sein. Mit Punschhäferl und anderen Köstlichkeiten in der Hand. Überall würden Handykameras die schönsten Momente festhalten. Dazwischen würden Touristenführer ihre Gruppen zusammenrufen und mit ihren Stöcken und Regenschirmen die schneeträchtige Luft durchrühren.
Heute ist es ruhig
Verdammt ruhig. Obwohl wir uns eigentlich im zweiten Lockdown befinden, sind vereinzelt Menschen, zum Luft schnappen anzutreffen. Im Nebel erheben sich selten, aber doch, dunkle Gestalten. Spaziergänger, Läufer, Familien mit Kindern.
2021 - da geben wir aber Vollgas
Ihr werdet schon sehen, ich komme ganz bestimmt wieder. Denn 2021 ist wieder alles normal. Und darauf freue ich mich. Da versinkt die Normalität nicht mehr im Nebel. Und dann werden auch unsere Busse wieder gut gelaunte Passagiere hier aus- und einsteigen lassen und unsere staatlich geprüften Fremdenführer/innen werden ihr Wissen über Schönbrunn und dessen Geschichte zum Besten geben. Natürlich nicht nur zur Adventzeit. Sondern ab der Minute, wo sicheres Reisen wieder möglich ist.
Langsam verlasse ich zuversichtlich den Park. Jetzt fahre ich nachhause und mache uns Zwetschkenknödel, weil Germknödel kann ich nicht. Und will ich nicht! Denn die esse ich nächstes Jahr hier am, für mich romantischsten Adventmarkt Wiens! Und dann sicher nicht nur einen. Ich muss ja für heuer aufholen.