Die Geschichte wiederholt sich

19.11.2021

Die Brücke von Andau und die Fluchtstraße

Andau, Burgenland

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Ein beklemmendes Gefühl kriecht in mir hoch, wie eine verwirrte Schlange.

"Der Blick in die Freiheit" - zwischen ungarischen und österreichischen Staatsgebiet trennt nur eine brüchige Brücke. 1956 war dieser kleine Holzsteg für über 70.000 Menschen die Chance auf ein Leben in Freiheit und Frieden. Heute ist die, zum 60. Jubiläum renovierte und erweiterte Brücke wieder dem Verfall preisgegeben. 65 Jahre danach liegt sie morsch und wacklig vor mir.

Ich kann nur die Dramen von damals erahnen. Die Strohhalme der Hoffnung, die die Menschen verzweifelt erreichen wollten. Die unbezahlbare Hilfe, die von der österreichischen Bevölkerung geleistet wurde.

Nach der Brücke beginnt auf burgenländischer Seite die rund 9 km lange Fluchtstraße, gesäumt mit einst 90 Skulpturen, die meisten aus vergänglichem Holz. Im Zuge eines Künstlersymposiums wurden sie in den Jahren 1992-1996 errichtet. Sie befinden sich im Eigentum der Künstler und stehen als Zeichen für "Ablehnung von Gewalt, Intoleranz und Inhumanität, Menschenverachtung und Rassismus".

Ich fahre die Straße langsam entlang, versuche die alten Szenen ins Gedächtnis zu rufen. Wir war es damals? Wie fühlten sich die Menschen, die auf der sicheren Seite angekommen waren? Wie verzweifelt waren alte Menschen, Familien mit Babys um überhaupt diesen gefährlichen Schritt in die Ungewissheit zu wagen? Die alte Heimat zurückzulassen und auf einen gesicherten Neustart zu hoffen?

Wir leben gerade inmitten einer weltweiten Pandemie, gehen einer unsicheren Zukunft entgegen und versuchen täglich dem unsichtbaren Feind zu entkommen. Ist die Impfung gegen Corona der sichere Übergang wie der kleine Holzsteg im Jahre 1956? Liegt hinter der morschen und wackligen, gefährlichen und riskanten Überquerung eine gesicherte Zukunft? Die Situationen können ganz vorsichtig miteinander verglichen werden. Nur, dass damals die Menschen ihren Feind sahen und davon fliehen konnten. Wir sehen heute unseren Feind nicht, wir können auch nicht davor fliegen. Wir können nur hoffen, bangen und der Medizin vertrauen. Wir können nur mit Hausverstand an die Sache gehen und täglich hoffen, dem unsichtbaren Feind zu entkommen. Wir haben nicht mal einen sichtbaren, wackligen Holzsteg, der uns vor Verderben und Zukunft trennt.

Die Brücke wurde am Nachmittag des 21.11.1956 von sowjetischen Soldaten gesprengt. 40 Jahre danach errichteten ungarische und österreichische Soldaten zur Gedenkfeier die neue Holzbrücke, die nun wieder morsch und unsicher unter meinen Füßen wackelt. Ähnlich fühle ich mich genau heute, am ersten Tag des neuerlichen Lockdowns in Österreich. Wobei erstmals es "nur" ein Teillockdown ist. Ist das bewusste Wegsperren von ungeimpften Menschen in Österreich nun der richtige Schritt um die Pandemie zu brechen und endlich unseren "Blick in die Freiheit" wagen zu können? Oder ist es nur ein morscher, wackliger und verzweifelter Versuch mit einer ungewissen Zukunft hinter der nächsten Coronawelle?

Ich frage mich, wie es wohl damals war? Nachdem es keine Handies gab und somit keine Selfies, gibt es im Netz keine wahren Antworten. Auf alle Fälle bewahrheitet sich das alte Sprichwort: "Über alles wächst ein Gras"

Und so verwachsen auch die Mahnmale entlang der Fluchtstraße, brechen ab, verschwinden unter den Wetterkapriolen im burgenländischen Seewinkel. Ja, Gras wächst drüber. Und es entsteht neues Leben. Hinter den verwitterten Mahnmalen wächst Getreide, Kukuruz, Zwiebel und mehr. In manchen Skulpturen nisten Vögel.

Wird auch hinter der Corona-Pandemie wieder neues Leben entstehen? Wird eines Tages irgendwer an meiner Stelle stehen und über die damalige Zeit nachdenken? Wird der- oder diejenige sodann auch mit neuen Herausforderungen, mit einem noch nie dagewesenen Feind kämpfen? Wird dann über unsere Situation berichtet und diese eigentlich als noch leichter als die wieder neu aufflammenden Zeiten gesehen werden?

Unter der Brücke von Andau plätschert sanft der Einser-Kanal, einst angelegt zur Entwässerung der Hansagsümpfe und zur Regulierung des abflusslosen Neusiedler Sees. Heute liegt er zwischen dem Nationalpark NeusiedlerSee-Seewinkel und dem Nationalpark Fertö-Hansag. An der Linie des einstigen "Eisernen Vorhangs" entsteht neues Leben. Ehemals hier angesiedelte und teilweise schon fast ausgestorbene Tier- und Pflanzenarten kehren zurück.

Der Nebel taucht meine Spurensuche in ein mystisches Licht, hält sie fest gefangen und legt sich schwer über die verwitterten Symbole der Unvergessenheit.

Ich kehre der Brücke von Andau, sowie der Fluchtstraße mit einer Menge an ungelösten Fragen den Rücken. Übrigens, für interessierte Busgruppen bieten wir jederzeit geführte Fahrten an.

Doch eines ist sicher und macht mich stark: "Nach jeder Katastrophe erwacht neues Leben. Es ist nur eine Frage der Zeit. Nur verzweifeln dürfen wir jetzt nicht. Wir schaffen auch diese Zeit, wie damals die Menschen ihre Zeit geschafft haben."

Wien, 15.11.2021

Transparenz

Fotos von Fotografin Renate, www.fotografinrenate.at. Text bei Renate Stigler. Keine bezahlte Werbeeinschaltung. Bei diesem Text handelt es sich um persönliche Erfahrungen, die eine werbende Wirkung haben könnten! Weiters ist es eine Momentaufnahme am Tage unseres Besuches. Wir weisen darauf hin, dass wir keine Gewähr für die Vollständigkeit und Richtigkeit dieser Informationen sowie für gegebenenfalls daraus resultierenden Schaden übernehmen.

Achso, wenn du Rechtschreibfehler findest, dann kannst du es mir gerne sagen oder dir behalten. Ich mache mir dann einfach wieder welche.